Die neue Sonderausstellung über Zwangsarbeit und NS-Justiz in Potsdam (1940-1945) thematisiert vom 22. November 2024 bis 15. Juni 2025 das von Deutschen in Brandenburg und europaweit begangene Verbrechen der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Sie führt vor allem anhand der Lebensgeschichten von in der Lindenstraße inhaftierten Zwangsarbeiter:innen die verheerenden Folgen rassistischer Ideologie und Politik vor Augen und leistet damit einen Beitrag, die Betroffenen von NS-Zwangsarbeit ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Porträtfoto von Walter Dubois aus seinem Arbeitsbuch für Ausländer, 1943 © BLHA, Rep. 12B Potsdam 885
Fußlappen und Holzpantinen sowjetischer Kriegsgefangener in einem Lager der Zeche Emscher-Lippe, 1942 © LWL-Medienzentrum, Foto: Sammlung Grau
80 Jahre nach Kriegsende erinnert nur wenig an ein menschenunwürdiges System im nationalsozialistischen Deutschland: die Ausbeutung von 8,4 Millionen zivilen Zwangsarbeiter:innen aus ganz Europa. Dabei war auch im heutigen Land Brandenburg und in Potsdam Zwangsarbeit in der NS-Diktatur zwischen 1940 und 1945 omnipräsent. Die ausländischen Zivil- und Zwangsarbeiter:innen sind bislang eine wenig beachtete Haftgruppe des Haftorts Lindenstraße. Mehrere Hundert Männer und Frauen aus mindestens 20 Nationen sind als Inhaftierte des Gerichtsgefängnisses Potsdam belegt. Die deutschen Besatzer hatten sie neben Millionen anderen für die Arbeit in Deutschland angeworben, gezwungen oder genötigt und an Einsatzorte transportiert, wo sie den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel ausgleichen sollten. Über die zivilen Zwangsarbeiter:innen, die in der Provinz Brandenburg ihre Einsatzorte hatten und aus unterschiedlichen Gründen im Gefängnis Lindenstraße inhaftiert waren, ist in der breiteren Öffentlichkeit kaum etwas bekannt.
Basierend auf neuen Recherchen präsentiert die Sonderausstellung erstmals ein Haftbuch der in der Lindenstraße festgehaltenen ausländischen Arbeitskräfte. Im Zentrum der Ausstellung stehen 18 repräsentative Biografien von Inhaftierten, welche die Verfolgungs- und Urteilspraxis von Polizei, Gestapo, Staatsanwaltschaften und Gerichten für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Brandenburg näher betrachten. An ihren Lebenswegen werden zugleich Rekrutierungsformen sowie Arbeits- und Lebensbedingungen in Potsdam und weiteren ausgewählten Orten im Land Brandenburg sichtbar. Reflektiert werden in Kontextmodulen auch die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der NS-Zwangsarbeit.
Einer der betroffenen Zwangsarbeiter ist der 1921 in Berlaimont/Frankreich geborene Walter Dubois. Er arbeitete seit März 1943 als Schlosser in der Metallwarenfabrik Treuenbrietzen GmbH, Werk Sebaldushof, und wohnte im „Ausländerlager“ der Firma. Er war für die Einrichtung und Bedienung von drei Maschinen zur Fertigung von Patronenhülsen zuständig. Nachdem er im Januar 1944 etwa 30.000 Stück Ausschuss produziert und die Hinweise der polnischen Kontrollarbeiterin darauf ignoriert hatte, verhaftete ihn der Werkschutz. Die Geschäftsführung zeigte ihn am 8. Februar 1944 wegen Sabotage bei der Gestapo Potsdam an. Vom 10. Februar bis 4. März 1944 saß er in Polizeihaft in Treuenbrietzen und anschließend in Untersuchungshaft im Gerichtsgefängnis Jüterbog. Dubois gestand und gab zur Begründung unter anderem an, unkonzentriert gewesen zu sein. Er habe noch nie Urlaub gehabt und sich Sorgen um seine Eltern gemacht.
Die Strafkammer des Landgerichts Potsdam verurteilte Walter Dubois am 2. August 1944 zu sechs Monaten Gefängnis wegen der Produktion von fehlerhaften Patronenhülsen. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft in Jüterbog, war die Strafe nach weiteren sechs Tagen im Landgerichtsgefängnis in der heutigen Lindenstraße in Potsdam verbüßt. Seine Arbeitskraft war wichtiger, denn unmittelbar aus der Haft wurde er zum „Osteinsatz“ geschickt. Die Abordnung von deutschen und ausländischen Arbeitskräften für die „Erfüllung staatlicher Aufgaben“ basierte auf der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938. Anfang August 1944 wurden auch Zivilarbeiter aus Potsdamer Betrieben sowie Strafgefangene und Strafentlassene aus dem Gefängnis Lindenstraße mit Genehmigung des Arbeitsamtes zum „langfristigen Notdienst“ herangezogen. Sie waren mitunter mehrere Monate beim Bau von Verteidigungsanlagen in Ostpreußen und Pommern eingesetzt. Walter Dubois weiterer Verbleib ist unbekannt.
Mit der Ausstellung erinnert die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße noch einmal umfangreicher, als dies bisher am Ort geschieht, an das menschenunwürdige und rassistisch strukturierte Ausbeutungsunternehmen und an die Beziehungsgeschichte zwischen Deutschen und ausländischen Arbeitskräften. Sie arbeitet damit zugleich einen weiteren Teil der Geschichte des Hauses auf.
Die Ausstellung wird durch ein Begleitprogramm u.a. mit Kuratoren-Führungen, thematischen Stadtrundgängen, einer Stadtrundfahrt mit der historischen Straßenbahn, einem Arado-Rundgang und einer Filmveranstaltung ergänzt. Für Jugendliche gibt es ein besonderes Angebot, eine digitale Spurensuche durch die Sonderausstellung mit der App Actionbound. (Das vollständige Begleitprogramm finden Sie hier.)
Es erscheint ein Katalogband.
Gefördert durch die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung.